Impulse von Hesse.
“Ich lebe in meinen Träumen. Die anderen Leute leben auch in Träumen, aber nicht in ihren eigenen. Das ist der Unterschied.” (Hermann Hesse)
Sie starrte auf den Abreißkalender an ihrer Küchenwand. Der Kaffee in ihrer linken Hand schon länger nicht mehr warm, genau wie die Füße auf dem Dielenboden.
Die Zahlen auf dem Kalender steigen, bis sie wieder bei eins anfangen. Bei eins anfan- gen, wie sie jeden Morgen, wenn sie zu zählen beginnt.
Bernadette zählte. Die Tage, die Stunden, die Aufgaben, die Hunde auf der Straße vor ihrem Fenster im Souterrain. Manchmal auch die Poren, die sie sich im Spiegel ausdrückt. Die Anzahl der Handbewegungen, wenn der Metzger sich den Hut zurechtrückt. Manch- mal zählte sie auch nur ihre Schritte.
Von ihrem Bett bis in die Küche, von der Couch aus zum Kiosk und wieder heim. - Es sind 389. 389 mal den Fuß heben und auf die Straße setzen. Und nicht umdrehen, nur nicht umdrehen, dachte sie jedes Mal auf dem Weg. Wenn sie sich umdrehte, könnte sie etwas sehen, und dann vergäße sie zu zählen, und würde vielleicht verpassen, einen Schritt zumachen, der ihre 389 Schritte würde gerade werden lassen. Vielleicht würde sie auch stolpern, purzeln, taumeln. Vielleicht ließe sie ganz kurz einmal die Seele baumeln, die Kontrolle fahren, und das wollte sie sich nicht erlauben. So jemand war sie nicht.
Bernadette war anders, das ist was zählte. Das Zählen gab ihr Kontrolle und die Kontrolle gab ihr Sicherheit. Sie konnte es nicht mit ansehen, wie die Menschen draußen nebeneinander her gingen und sich unterhielten. Nicht über Zahlen, nein, über letzten Samstag und den See und die Vögel in den Bäumen. Vielleicht manchmal auch wer be- zahlte bei einem Date. Sie musste Acht geben. Konnte nicht zu lange schlafen, sie war ja keine Siebenschläferin.
Acht Stunden Schlaf. Acht Stunden Arbeit. Und dazwischen zählen. 3 Minuten Zähneput- zen, zwei Mal am Tag. Jeden Tag 15 Mal. Jeden Bissen 30 Mal kauen. 10 Minuten duschen. 5, jetzt, da das Gas knapp wurde. Die restlichen 5 warten. Im Badezimmer. Auf dem Flie- senboden, der nass wird von ihren tropfenden Haaren. Tropfen für Tropfen. 63, 64, 65. Blonde Menschen haben circa 150000 Haare. Ihr Badezimmer hat in etwa 240 Fliesen. Ihre Augen tränten. Ihre Haare strähnten. Und ihr Bad war nass. Etwa eine Stunde lang, bevor das Wasser trocknete. Als sie Corona hatte, wie viele andere auch, hatte sie den Fliesen beim Trocknen zugesehen. Und gezählt. Sie wusste nicht mehr, wer von ihren Kol- legen sie angesteckt hatte, aber der oder die war eine ganz miese Nummer.
Die Welt ist voll von Zahlen. Es gibt nichts, was keine Zahlen hat, alles dauert Zeit und Zeit sind Zahlen. Und alles andere sind Meter, Zentimeter, Millimeter. Und Bernadette kennt jeden Winkel um sie herum, kennt jede Sekunde und jeden Millimeter. Und wenn sie den Menschen auf dem Weg zum Kiosk, bei Schritt 247, zuhört und sie von den Vö-geln in den Bäumen reden, dann denkt sie 248, 249. Und, dass September ist, 11.
Sie hasst diesen Kalender. Und alle Menschen, die Gregor heißen, weil der die Kalender kaputt gemacht hat. September. 11. Ihr Auge zuckte.
Sie musste Acht geben.
“Ich lebe in meinen Träumen. Die anderen Leute leben auch in Träumen, aber nicht in ihren eigenen. Das ist der Unterschied.” (Hermann Hesse)
Pass auf, dass du dich nicht verlierst, sagen sie.
Wate nicht zu tief, sagen sie. Schwimme nicht zu weit.
Wenn die Wasseroberfläche sich über deinem Scheitel schließt und deine Zehenspitzen den Sand nicht mehr fühlen
Dann ist es zu spät
Sagen sie
Sie hatten noch nie Wasser in der Lunge
Und auch noch keinen halben Meter dreck über dem Kopf Experimente gab es keine, saßen nie in einem Loch
Und trotzdem, sie wissen es
Sie wissen wie ich bin
Wann ich mich gefunden
Und wieder verloren habe
Eine Zeit lang hatte ich Angst mich nicht zu erkennen Wenn ich in den Spiegel blickte
Habe angefangen, Postkarten zu schreiben
Die ich an mich selbst verschickte
Gelesen hab ich sie nie
Jetzt stehe ich am Wasser
Die Karten in der Hand
Ich stehe still, mein Spiegelbild zieht Kreise Mein Herz schlägt leise, immer auf der Suche Hab ich mir selbst zu viel abverlangt
Ich denke nicht
Aber ich denke ans schwimmen Und verlieren
Und mache mich auf den Weg Die Karten ungelesen in der Hand Denn der Weg zurück an Land
Ist das, was ich bisher immer fand
Also wieso nicht noch eine Weile schwimmen Oder untergehen, denn das beides ist es,
Was ich wirklich kann.
Früher habe ich mich am liebsten hingelegt Hatte das Aufstehen verlernt Und auch das Schlafen Lag Jahre lang die Nächte wach Hab nur nicht vergessen wie man atmet Größtenteils
Die Sonne scheint, Schreit mich an Und die Nacht lacht mich aus Und ich lache mit Eines habe ich mit mir ausgemacht Eines Tages schreie ich zurück
Ich bin das von Haaren verstopfte Abflusssieb in der Dusche des Lebens. Zu viele Dinge bleiben täglich an mir kleben, dass ich aufgegeben habe, etwas daran zu ändern. Zumindest bis vor kurzem.
Ich stand in der Dusche, schon wieder viel zu lange, das schaumige Wasser sammelte sich im Becken, kalt. Das Warme längst verbraucht. Hielt mir die Brause links an den Kopf, zielte mit einem der kleinen Strahlen direkt auf das Trommelfell, dass es nur so rauscht. Es kitzelt so schön, wenn man das macht. Manchmal kichere ich dabei, manchmal habe ich auch gelacht. Wie absurd das klingt, darüber habe ich noch nie nachgedacht.
Und wie ich da stand, lachend, Wasser im Ohr, dachte ich ans Meer. An den Sand auf der Kopfhaut, der beim duschen nicht weggeht. Und an die Motorboote, die man nicht sehen kann, nur unter Wasser hören.
Der Sand zwischen den Fingern, als ich mal im Handstand am Strandstand an- stand. Jetzt liege ich im Bett auf meiner unbespannten Matratze. Das Fenster offen, die Füße an der Wand. Wenn man nur so halb hinhört klingt auch das Rauschen der Autobahn neben meiner Wohnung wie das Meer. Aber es riecht anders. Und der Kiosk gegenüber verkauft auch keine Pommes.
Ich gebe mir einen Ruck. Gehe ins Bad, nehme das Abflussieb aus der Dusche, das Wasser fließt gluckernd ab. Ich säubere es, lege es an seinen Platz zurück -
Und fahre ans Meer.